Abschaffen, was nicht wirkt. Warum Steuerung,
Zielsysteme und Bereichsstrukturen unser größtes
Produktivitätsproblem sind
Fachkräftemangel, Change-Müdigkeit, Kulturgestaltung, New-Work-Buzzwords – viele Unternehmen arbeiten sich an Symptomen ab. Niels Pfläging geht an die Wurzel: Führungskräfte und ihr Verhalten seien nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.
Warum Machtstrukturen nicht modernisiert, sondern überwunden werden müssen – ein Gespräch über Kontrollillusionen, autoritären Management-Mythos und die Kraft echter Selbstorganisation. Niels Pfläging ist Management-Vordenker, Buchautor und Mitgründer der Beratungsfirma Red42. Seit über zwei Jahrzehnten begleitet er Unternehmen im In- und Ausland auf dem Weg zu dezentraler Organisationsgestaltung. Er fordert einen radikalen Perspektivwechsel: weg von Weisung und Kontrolle, hin zu echter Verantwortung.

„Statt neuer Führung braucht es: viel weniger Führungskräfte.“
Was klingt wie ein Tabubruch, ist für Niels Pfläging eine zwingende Konsequenz aus 30 Jahren Forschung, Beratung und Begleitung von Organisationen. Denn dort, wo heute „Führung“ draufsteht, sei oft nur Kontrollbürokratie, Fremdsteuerung und Strukturkonservativismus drin.
„Gremien, Budgetrunden, Zielvereinbarungen – das sind keine Führungsinstrumente, das sind machtstabilisierende Rituale,“ sagt Pfläging. „Sie dienen nicht Orientierung, nicht Zusammenarbeit, nicht Fortschritt, nicht Wertschöpfung. Sie zahlen nur auf die Illusion von Kontrolle ein.“ Die eigentliche Arbeit, das Miteinander-Füreinander-Leisten, finde dort oft gar nicht mehr statt. Stattdessen würden Organisationen in Riten, Rollen und Routinen erstarren, kaum jemand hinterfragt. Die Frage ist nicht, wie wir Management besser machen. Die Frage ist: Warum brauchen wir es eigentlich noch?
Für Pfläging ist klar: Der klassische Managementansatz mit seiner Logik der Trennung des Denkens vom Handeln ist systematisch ungeeignet für komplexe, dynamische Kontexte. Und er ist der Hauptgrund, warum sich viele Unternehmen von innen selbst blockieren. „Selbstorganisation ist keine Mode. Sie ist die Voraussetzung für Zukunftsfähigkeit.“
Organisationen leiden und versagen, obwohl sie eigentlich gut funktionieren könnten
Was heute unter „Fachkräftemangel“ firmiert, ist für Pfläging oft nichts anderes als ein Symptom schlechter Organisation: „Wenn ein Unternehmen sagt, es findet keine Entwickler, dann ist das keine Marktfrage. Dann hat es sich selbst so organisiert, dass es gute Leute nicht rekrutieren kann, oder dass diese Leute gar nicht kommen wollen.“
Management, wie wir es kennen, verhindere Verantwortung. Es verhindere Eigeninitiative. Und es verhindere echte Wertschöpfung. „Wir brauchen keine Head-ofs, keine Teamleads, keine individuellen Ziele und Anreize. Wir brauchen Könnerinnen und Könner, die gemeinsam wirken dürfen – und das frei von Einmischung von oben.“
Agile Hierarchien? Ein Widerspruch in sich.
Viele Unternehmen haben in den letzten Jahren auf Agilität gesetzt – zumindest oberflächlich. Doch für Pfläging sind diese Versuche fast ausnahmslos gescheitert. Warum? „Weil die Unternehmen ihre Organisationssysteme nicht wirklich verändert haben. Agile Führung, wie das gerne genannt wird, ist immer noch zentralistische Fremdsteuerung .“
Oft werden in „agilen“ Organisationen alte Hierarchien einfach neu verpackt: mit anderen Begriffen, in bunteren Formaten, mit mehr Meetings statt weniger zentraler Weisung und Kontrolle. Doch echte Selbstorganisation beginnt dort, wo Fremdsteuerung endet. Alles andere ist Kosmetik. „Wer wirklich etwas verändern will,“ so Pfläging, „muss den Willen dazu haben, die Muster der Über- und Unterordnung ganz zu verlassen – statt sie neu zu dekorieren.“
Wo es funktioniert: Beispiele, die Mut machen
Dass es anders geht, zeigt ein Blick auf Organisationen, die sich radikal anders und dezentralisiert aufgestellt haben:
- dm-drogerie markt: Hier wird „Miteinander-füreinander leisten“ groß geschrieben – ein Prinzip, das Führung als soziale Dynamik zwischen Menschen definiert, nicht als Position mit Macht über Menschen.
- Handelsbanken (SE): Eine Bank, die seinen hunderten von Filialen maximale Entscheidungsfreiheit gibt, ohne Planung, Budgets und Zielvorgaben. Die Ergebnisse sind besser als jene aller zentral gesteuerten Wettbewerber.
- Buurtzorg (NL): Ein dezentrales Sozialunternehmen, das ohne klassische Hierarchie arbeitet und weltweit als vorbildlich gilt in Sachen Selbstorganisation. Den Umgang mit Performance hat Buurtzorg sich bei der von Handelsbanken abgeschaut.
Diese Unternehmen beweisen, dass es geht. Sie zeigen: Selbstorganisation ist nicht chaotisch oder anarchisch. Sie ist Struktur und hat Struktur – aber eben die richtige.
Methoden-Snack für den Alltag: Was du heute schon tun kannst
Pfläging rät zu systematischer „Organisationshygiene“. Diesen Begriff hat er mit Co-Autorin Silke Hermann in seinem Bestseller Komplexithoden geprägt.

Organisationshygiene heißt, Methoden, Rituale, Begriffe und Prozesse abzuschaffen,
die nichts bringen können und die Wertschöpfung verstopfen.
Einige Vorschläge:
- Fixierte, individuelle Ziele und Boni streichen – das Festgehalt entsprechend aufstocken: „Die Karottierung von Mitarbeitenden zerstört Vertrauen und erzwingt taktisches Verhalten.“
- Jahresplanungen und Budgetierung abschaffen: „In dynamischen Märkten ist Jahresplanung zwangsläufig entweder Placebo oder Zyankali. Das gehört auf den Müllhaufen der Geschichte.“
- Kreise, Ausschüsse und Gremien eliminieren: „Sie machen Verantwortungsübernahme und Selbststeuerung unmöglich.“
- Auf Teamleads, Kontroll- und Koordinationsrollen verzichten: „Sobald ein Team einen Lead hat, kann es nicht mehr als Team funktionieren.“
- Mitarbeiterbefragungen beenden: Lieber echte Gespräche statt anonymer Klicks und Schuldzuweisung. OpenSpace-Methode und direkte Dialogformate sind konstruktiv – Befragungen dagegen nicht.
- Regelwerke entschlacken: „Streichen Sie Reisekostenrichtlinien und Co. Stattdessen: Ein einziges Prinzip zur Sparsamkeit und Konsultation zwischen Kolleginnen.“
- Sinnfragen statt : Wer in Meetings Sätze hört wie „Das ist halt so“, sollte fragen: „Wem dient das?“
- Personalentwicklung und Mitarbeiterbeurteilungen: „Mitarbeitende sind selten das Problem, im System steckt immer irgendwo der Wurm. Es ist also klug, am System zu arbeiten, statt an Menschen.“
Und die Führungskräfte?
Was bleibt dann übrig? Pfläging: „Führung muss sich neu definieren. Als etwas, das zwischen Menschen geschieht, nicht von oben nach unten.“ Statt Macht und Kontrolle brauche es Orientierung, Dezentralisierung und Vertrauen. Und vor allem: das Wollen dazu, die eigenen Rollenbilder zu hinterfragen.
Fazit:
„Selbstorganisation ist der Preis der Freiheit“, sagt Pfläging. „Sie ist zu einem gewissen Grad unbequem. Aber Selbstorganisation ist nötig, wenn wir einerseits menschliches Potenzial entfalten und andererseits im Wettbewerb bestehen
wollen.
In diesem Sinne ist Selbstorganisation mit Führung gleichzusetzen. Sie ist dasselbe! Für Führungskräfte lohnt es sich, sich einer oft übersehenen Herausforderung bewusst zu werden: Dass sie vor allem aufhören sollten, Selbstorganisation im Weg zu stehen.“