Agilität und Selbstorganisation: Ein Gespräch mit Organisationsentwickler Frank Schneider über Unternehmensentwicklung und die Rolle einer Führungskraft

 

Krisen, Digitalisierung, neue Anforderungen an den Arbeitsmarkt – die Rahmenbedingungen für Unternehmen ändern sich ständig und regelmäßig. Um im Wettbewerb bestehen zu können, muss eine Organisation sich weiterentwickeln und anpassungsfähig bleiben. 

Wir haben mit Frank Schneider systemisch-agiler Organisationsentwickler – gesprochen. Frank ist unter anderem für Snocks und The People Branding Company tätig. Im Gespräch ging es um zukünftige Entwicklungstrends, unterschiedliche Organisationsformen, wie Unternehmen zu selbstlernenden Organisationen werden und welche Rolle Führungskräfte in Zeiten hoher Selbstorganisation der Mitarbeitenden einnehmen. 

 

Hallo Frank, ich freue mich, dass wir heute miteinander sprechen. Könntest du dich bitte kurz vorstellen?

Ich bin Frank Schneider, 34 Jahre alt, wohne in Stuttgart und arbeite als systemisch-agiler Organisationsentwickler. Was das bedeutet? Ich begleite Unternehmen dabei, ihre Organisationen und Teams iterativ weiterzuentwickeln. 

Meine Aufgabe ist es, das Verständnis zu fördern, dass eine Organisation ein lebendiger Organismus ist, der sich regelmäßig an veränderte Bedingungen anpassen muss. Diese Bedingungen können externe Einflüsse wie Kundenanforderungen oder interne Faktoren sein. Ich unterstütze Unternehmen dabei, maßgeschneiderte Betriebssysteme für sich zu entwickeln. 

Die Menschen im Unternehmen sind die „Hardware“ und die Art und Weise, wie sie zusammenarbeiten, ist die „Software“. Mein Beitrag besteht darin, diese Software gemeinsam mit den Organisationen agil weiterzuentwickeln. So wächst die Zusammenarbeit schrittweise und stetig, wie bei einem Betriebssystem-Update. Das ist, was ich tue. 

  

Vor etwa 5 Jahren hast du dich als Organisationsentwickler selbstständig gemacht. Wie kam es dazu? Und welche Vorteile siehst du darin, Unternehmen bezüglich Agilität und Entwicklung als externer Coach zu unterstützen statt in einer beratenden Rolle innerhalb eines Unternehmens?

Während meiner Zeit als Innovationsmanager und Scrum Master kam ich erstmals mit dieser neuen Arbeitsweise in Berührung. Davor arbeitete ich nach meinem Studium über vier Jahre im Controlling und lernte so die klassische Geschäftswelt kennen. Diese Erfahrung half mir, Unternehmensprozesse von innen heraus zu verstehen. 

In dieser Zeit arbeitete ich an Projekten im Bereich Lean Production, was mir heute noch hilft.  

Die neue Arbeitsweise faszinierte mich sofort. Es war das erste Mal, dass ich in einem interdisziplinären Team arbeitete und sah, was passieren kann, wenn alle auf ein Ziel hinarbeiten. Diese Arbeitsweise hatte den Spirit eines Startups innerhalb eines größeren Unternehmens. 

Besonders spannend war, dass unser Team innerhalb der Organisation Aufmerksamkeit erregte, da wir Dinge anders und schneller erledigten. 

Ich kümmerte mich um diese Menschen – es reizte mich, zu erklären, warum wir anders handelten, was wir erreichen wollten und was andere von unserer Arbeit lernen könnten. 

Stell es dir vor wie ein kleines Schnellboot neben einem großen Tanker. Der Tanker war neugierig, warum wir so schnell waren.  

Die externe Sicht hilft mir nun, schnell zu erkennen, wo Dinge festgefahren sind, und als unabhängige Person klar zu identifizieren, was zu tun ist. Das ist ein wesentlicher Vorteil im Vergleich zur Arbeit innerhalb eines Unternehmens. 

Die Entscheidung, mich selbstständig zu machen, war eine Art Selbstexperiment über sechs Monate mit einem festen Budget. Dieses Experiment verlief erfolgreich. 

  

In einem deiner LinkedIn-Beiträge hast du offenbart, dass Personal Branding nicht zu deinen Stärken zählt, obwohl du Unternehmen coachst, die sich auf diesem Gebiet spezialisiert haben. Gibt es weitere Erkenntnisse aus der Zusammenarbeit mit Kund:innen, die du in deiner Selbstständigkeit anwendest?

Der Vorteil als Coach ist, dass ich Unternehmen in beiden Extremen begleiten kann. Von den natürlicherweise agilen Unternehmen mit 12 bis 20 Mitarbeitenden bis hin zu den Großkonzernen, die agiler werden möchten. 

Ich sehe, was Großunternehmen gut machen, wie sie mehr Formalisierung und eine höhere Standardisierung erreichen. Aber auch die Kleinen, die mutiger sind, schnell Lösungen umsetzen und Fehler in Kauf nehmen. 

Ein Kunde von mir trifft sich beispielsweise wöchentlich mit den Führungskräften, damit diese sich gegenseitig von ihren Fehlern und dem, was nicht so gut gelaufen ist, berichten können, und auf diese Weise gemeinsam lernen. 

In größeren Konzernen sind solche Praktiken häufig weniger verbreitet. Das Eingestehen von Fehlern zu ermutigen und ein Umfeld zu schaffen, das Fehler willkommen heißt, stellt in solchen Strukturen eine deutlich komplexere Herausforderung dar.  

Zwischen diesen Polen zu stehen und mit beiden Seiten zu arbeiten, hat einen großen Mehrwert für Kund:innen. Dies hilft mir, Ideen von kleinen Unternehmen auf größere zu übertragen. 

Ich lerne viel aus meinen Workshops, besonders über Menschen. Ich mache die Übungen, die ich mit Teams bearbeite, oft selbst im Vorfeld durch und reflektiere darüber, wie ich antworten würde. So entwickle ich mich jedes Mal weiter. 

 

Ein Unternehmen, mit dem du arbeitest, ist vollständig remote organisiert, abgesehen von vier gemeinsamen Workations im Jahr. Welche Potenziale siehst du in solchen Organisationsstrukturen  sowohl für kleinere als auch für größere Unternehmen?

Ein riesiger Vorteil ist der Zugriff auf einen größeren Pool an potenziellen Mitarbeitenden. Ich kann mein Leben leben, wie ich möchte, unabhängig vom Standort, und dabei eine Tätigkeit ausüben, die mir Spaß macht. Das steigert die intrinsische Motivation enorm. 

Gerade in Zeiten des Fachkräftemangels erweitere ich meinen Rekrutierungsmarkt und habe dadurch einen Wettbewerbsvorteil. Auch betriebswirtschaftlich spart man Kosten für ein Büro. 

Allerdings braucht es bestimmte Rituale, um die persönlichen Begegnungen, die spontan im Büro passieren, zu ersetzen. Workations ermöglichen tiefergehende persönliche Beziehungen und Erfahrungen. 

Genau diese Möglichkeiten integrieren wir regelmäßig in unsere Workations. Wir beginnen im Grunde genommen bei den Grundlagen und beantworten Fragen darüber, was jemanden auszeichnet und definiert, was erforderlich ist, um effektiv zu arbeiten, und was das Team über eine Person wissen sollte. Diese Aspekte werden durch verschiedene Spiele und Übungen erlebbar gemacht. 

Die Erfahrung, wie es ist, direkt mit einer Person zusammenzuarbeiten, muss in gewisser Weise simuliert werden, da es in realen Arbeitssituationen nur begrenzte Gelegenheiten dafür gibt. 

Die Rolle von Führungskräften besteht darin, diese Selbstorganisation zu unterstützen und transparent zu kommunizieren. 

Dies kann durch verschiedene Rituale geschehen, zum Beispiel wöchentliche Besprechungen, tägliche Updates oder gemeinsame Start- und Abschlussgespräche am Ende einer Arbeitswoche. Es gibt diverse Rituale, die jede Organisation individuell für sich festlegen sollte. 

  

Welche Herausforderungen hat ein neues Remote-Team im Vergleich zu einem Team, das kürzlich auf Remote-Arbeit umgestellt wurde?

Transparenz und Kommunikation sind für beide Teamtypen wichtig. Ein Team, das gerade auf Remote-Arbeit umstellt, hat zusätzliche Herausforderungen, da es bestehende Gewohnheiten verändert. Zum Beispiel fehlt plötzlich die gemeinsame Mittagspause, in der man Dinge bespricht. Diese Gewohnheiten fehlen und müssen neu geschaffen werden. 

Manche Mitarbeitende haben das Unternehmen verlassen, weil ihnen die Präsenzarbeit fehlte und sie sich einsam fühlten. Für Teams, die dies bereits kennen, sind die Erwartungen anders. 

In Zeiten von Corona haben wir gelernt, dass weder komplett im Büro noch vollständig remote zu arbeiten optimal ist. Teams, die neu in die Remote-Arbeit einsteigen, benötigen mehr Unterstützung von Führungskräften und Aufmerksamkeit für individuelle Bedürfnisse. 

  

Lebenslanges Lernen wird immer wichtiger und einige Unternehmen implementieren passende Weiterbildungsmöglichkeiten strukturell. Welche Schritte kann ein Unternehmen gehen, um frühzeitig die Themen zu identifizieren und proaktiv anzugehen, um eine selbstlernende Organisation zu werden?

Es braucht Impulse von innen und außen. Externe Anreize sind notwendig, um zunächst das Bewusstsein für Organisationsentwicklung zu schärfen – die Erkenntnis, dass kontinuierliche Arbeit am System erforderlich ist, um eine Organisation voranzubringen. 

Organisationsentwicklung ist eine Aufgabe von Führung und Geschäftsführung. Die Prozesse, Zusammenarbeit und Kultur müssen regelmäßig betrachtet werden. 

Ein Unternehmen muss verstehen, dass es an seinem System arbeiten muss, um sich weiterzuentwickeln. Das kann durch regelmäßige Retrospektiven oder ähnliche Methoden erfolgen. Mitarbeiter sollten Verantwortung für Organisationsentwicklung übernehmen und sich als selbstlernende Organisation verstehen. 

  

 

Viele Methoden und Prinzipien der Organisationsentwicklung verfolgen den Trend zur stärkeren Selbstorganisation der Mitarbeitenden. Wie definierst du in einer solchen Organisation die Rolle und die Aufgaben einer Führungskraft?

Auch wenn die Hierarchien flach sind, muss dennoch eine klare Richtung vorgegeben werden. Teams benötigen eine gute Balance aus Autonomie und Alignment. Ist das Ziel jedem klar verständlich, können bessere lokale und selbständige Entscheidungen getroffen werden. Dadurch entsteht eine höhere Motivation bei den Mitarbeitenden, sowie Geschwindigkeit. Die Unternehmensführung muss verdeutlichen, wohin die Reise führt. Stelle ich fünf Personen die Frage, wohin sie gerne in den Urlaub reisen möchten, würden wahrscheinlich alle unterschiedliche Länder vorschlagen. Dieses Ziel steht sinnbildlich für den Geschäftszweck der Unternehmung. 

Die Aufgabe der Unternehmensführung besteht darin, nach und nach die Möglichkeiten einzugrenzen und sich, beispielsweise bei fünf verschiedenen Zielen, zunächst auf Südeuropa, dann auf Italien und schließlich auf Rom zu einigen. Es gibt allerdings viele Wege, die nach Rom führen. Wie wir dieses Ziel erreichen, sollte den Mitarbeitenden überlassen bleiben. Es sollte ihre Aufgabe sein, die besten Lösungen zu finden und diese eigenständig zu erkunden, sozusagen das Verkehrsmittel, mit dem wir vorankommen. 

Auf diese Weise sollten wir an den Punkt gelangen, an dem eine klare Verantwortungsübergabe besteht, was wiederum zu einer höheren Motivation der Personen führt. Diese Motivation entsteht, weil die Angestellten stärker in den Entscheidungsprozess einbezogen sind. 

Sobald klar ist, welche Richtung die Organisation anstrebt und dies für jeden verständlich ist, hat eine Führungskraft den Raum und die Zeit, um die notwendigen Rahmenbedingungen dafür zu gestalten. Diese Rahmenbedingungen sollen dem Team dabei helfen, bestmöglich zusammenzuarbeiten. Dazu gehört das Lösen unnötiger Abhängigkeiten oder das Bereitstellen nötiger Weiterbildungsmöglichkeiten. Die Schaffung all dieser Rahmenbedingungen bleibt weiterhin die Aufgabe einer Führungskraft. 

Ich glaube, dass Teile der klassischen Führungsaufgaben vom Team übernommen werden können, hierzu gehört auch Feedback. Ich erhalte besseres Feedback von den Menschen, mit denen ich täglich zusammenarbeite, als einmal im Jahr von meiner Führungskraft. Eine Führungskraft, die Urlaubsanträge unterzeichnet, halte ich ebenfalls nicht für notwendig. Das Team sollte sicherstellen, dass es sich gegenseitig bestmöglich unterstützt, ergänzt und vertritt. 

Die Führungskraft agiert eher als strategischer Akteur, als Coach, der die Mitarbeitenden herausfordert und fördert. 

 

Welche Trends oder Methoden der Organisationsentwicklung werden in den kommenden Jahren an Bedeutung gewinnen?

Ich wünsche mir, dass Organisationen Verantwortung übernehmen und individuelle Lösungen entwickeln. Wir sollten nicht versuchen, von anderen zu kopieren, sondern uns auf Selbstorganisation fokussieren. 

Wie großartig ist das denn? Wir haben die Möglichkeit, unsere eigenen Positionen zu definieren – das, was optimal zu uns passt. Wir müssen uns viel weniger Gedanken darüber machen, ob eine Rolle nun „Markeninhaber“ oder „Produktmanager“ genannt werden sollte. 

Die Zukunft liegt darin, dass Organisationen erkennen, wie sie am besten funktionieren und wie sie agil bleiben können. Menschen wollen eigenverantwortlich arbeiten und Verantwortung übernehmen, das bringt Motivation. 

Ich denke ebenfalls, dass dies ein äußerst natürlicher Prozess sein wird. Er wird hauptsächlich von den jüngeren Arbeitnehmer:innen vorangetrieben, die nicht länger in großen Unternehmen arbeiten möchten, in denen alles restriktiv und förmlich gehandhabt wird. 

  

 

Vielen Dank für deine Zeit und deinen Input, Frank!